Der Verlust unseres persönlichen Chronometers macht uns arm

Im Mittelalter war die Verwaltung der Zeit ein Privileg der Kirche, der Adeligen und der bürgerlichen Oberschicht. Sie verteilte die Stunden und Minuten an das gemeine Volk über öffentliche Uhren, ausserhalb deren Sichtweite verkündeten Glocken, wieviel es geschlagen hat. Nach dieser öffentlichen Zeit hatten die Bürger ihr Leben einzurichten. Peter Henlein half diesem Umstand mit der Erfindung der Taschenuhr ab.

 

Im Zusammenhang mit der ersten Taschenuhr wird immer wieder der Name Peter Henlein aus Nürnberg genannt. Über ihn steht in einer Nürnberger Weltbeschreibung aus 1511 zu lesen: «Täglich erfinden sie feinere Dinge. So bringt Peter Henlein, ein noch junger Mann, Werke hervor, die selbst die gelehrtesten Mathematiker bewundern, denn aus ein wenig Eisen fertigt er mit vielen Rädern ausgestattete Uhren, die, wie man sie auch wenden mag, ohne irgendein Gewicht 40 Stunden zeigen und schlagen, selbst wenn sie im Busen oder Geldbeutel stecken.»

 

Die Uhr – ein unverzichtbarer Begleiter

Rund hundert Jahre Entwicklungsgeschichte haben das Bild des Zeitmessers fürs Handgelenk in eindrucksvoller Weise geprägt, haben Spiel- und Nutzungsformen entstehen lassen, an die unsere damaligen Vorfahren nicht im Traume gedacht hätten. Sie war und ist mehr als ein reiner Gebrauchsgegenstand, den man morgens ans Handgelenk, abends aufs Nachttischchen legt, und von dem man untertags lediglich die aktuelle Uhrzeit abliest. Der Chronometer ist im Laufe der Jahrzehnte ein Stück Kulturgut geworden, für viele Menschen gar zum unverzichtbaren Begleiter, der zu ihnen gehört wie die Kleidung oder die linke Hand. Es zählte zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens, nach dem Aufstehen und der Morgentoilette die Armbanduhr zu ergreifen, sie liebevoll aufzuziehen, ihre Zeiger entsprechend dem Radio-Signal zu richten und sie dann an das Handgelenk zu schnallen, bis die Quarzuhr sich anschickte, diese Rituale überflüssig zu machen. Die Armbanduhr zeigt – mehr oder minder – wie akkurat die geschenkten, die vertriebenen, die totgeschlagenen Stunden unseres begrenzten Lebens an. Ohne sie fühlen wir uns verunsichert, manchmal sogar hilflos und ängstlich, schielen wir immer wieder aufs Handgelenk vorbeieilender Mitmenschen, um dort vielleicht die aktuelle Zeit erhaschen zu können, oder wir halten Ausschau nach öffentlichen Uhren, die uns in unserer Bedrängtheit helfen. Diese Entwicklung führte dazu, dass neben den «normalen» Modellen immer mehr auch solche verlangt wurden, die individuellen Bedürfnissen genügten und optisch im Trend der aktuellen Mode lagen. Hinzu kam, dass der Mensch zur Eroberung seiner Umwelt Zeitmesser mit unterschiedlichsten Fähigkeiten benötigte, mit spezifischen oder universellen Nutzungsmöglichkeiten, die in ihrer Summe letztlich nur die Armbanduhr bieten konnte. Gemeint sind z. B. die Bereiche des Sports, des Militärs, der Fliegerei, der Forschung, der Raumfahrt oder des Tiefseetauchens.

 

Genf als Ursprung der Schweizer Uhrenindustrie

Die Schweizer Uhrenindustrie fand im 16. Jahrhundert im Raum Genf ihren Ursprung. Dieses Gewerbe wurde durch Glaubensflüchtlinge (Hugenotten) aus Frankreich nach Genf und in den Jura gebracht. 1790 waren rund 20'000 Personen in der Uhrenindustrie beschäftigt. 85'000 Uhren wurden hergestellt, wovon rund 60'000 exportiert wurden. Historisch gesehen, hatte sich die Schweizer Uhrenbranche strukturell horizontal entwickelt. So haben stets Zulieferer, Handwerker und Subunternehmer Uhrwerke und Gehäuse an zentrale Montagefirmen geliefert, welche daraus Uhren produzierten (Etablisseurs). Nur Vereinzelte fertigten ihre Zeitmesser in allen Teilen selbst (Manufacture). Während der 70er und frühen 80er des 20. Jahrhunderts ist die Zahl der Uhrenhersteller von 1600 auf heute 650 zurückgegangen. Wurden 1970 noch rund 90'000 Uhren fabriziert, waren es 1984 noch 30'000 und heute 39'500. Heute ist die Uhrenindustrie nach der Maschinen- und der chemischen Industrie der drittgrösste Exporteur der Schweizer Wirtschaft. Modische Quarzuhren für ein paar wenige Franken oder exklusive Einzelstücke aus Gold mit Edelsteinen bestückt, sind auf der ganzen Welt zu finden.

 

Wie spät ist es?

Seit der Erfindung der Uhr dürfte dies die meistgestellte Frage sein, und seither ist uns Pünktlichkeit ein Ideal. Die Uhren waren zuerst allerdings selbst unpünktlich. Dass ihre Ganggenauigkeit durch eine Vorrichtung verbessert wurde, die Hemmung heisst, darob könnte man ins Sinnieren kommen. Der Tag ist die kleinste Zeiteinheit, die sich ohne Gerät feststellen lässt. Als dem Menschen das nicht mehr reichte und er Zeitmesser konstruierte, war ihm wohl nicht klar, welchen Beschleunigungsschub er damit auslöste. Bis zu den Sekunden, die erst im 17. Jahrhundert in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang fanden. Einst die Periode zwischen Sonnenauf- und untergang, und jetzt das. So unsinnlich ist Zeit geworden.

 

Literaturtipp:

Armbanduhren

Heyne Verlag